play_circle_filled pause_circle_filled volume_down volume_up volume_off Als der Tsunami im Jahre 2011 Japans Hauptinsel trifft, sterben 20.000 Menschen und über 2000 bleiben auch heute noch vermisst. Es ist im gleichen Jahr, als eine kleine, selbstgebastelte Telefonzelle in einem Fischerdörfchen berühmt wird.
Darin steht ein altes Wählscheibentelefon, das nicht einmal ans Netz angeschlossen ist. Doch mit etwas Phantasie kann man dort mit seinen Verstorbenen telefonieren. Man nennt dieses Telefon in Japan „Kaze no Denwa“ – das Telefon des Windes.
Download der Sendung hier.
Musiktitel: „We Will Be“ von JEFFREY PHILIP NELSON / CC BY 3.0
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Amaterasu-?-mi-kami muss man sich als schöne, lächelnde Göttin vorstellen. Sie ist die oberste Gottheit in der Shinto-Religion und Mythologen und Theologen rätseln seit Jahrhunderten, warum sie eine Frau ist.
Japan muss man sich als den Gipfel eines Berges vorstellen, dessen Spitze aus dem Wasser ragt. Sein Fundament liegt verteilt auf vier Kontinentalplatten, die aneinander reiben. 5000 Erdbeben erschüttern die Insel im Jahresdurchschnitt.
Man könnte also rätseln, warum Japan überhaupt besiedelt wurde. Oder warum die Hauptinsel Honshu eine sechsfach höhere Bevölkerungsdichte hat wie die Bundesrepublik.
Am 11. März 2011 um 14:46 Uhr wird diese Hauptinsel von einem Beben erschüttert, dass den 40-Meter-Tsunami auslöst, der in mehreren Atomkraftwerken Unfälle zur Folge hat, darunter auch in Fukushima.
An diesem Tag, dem 11. März sterben 19.000 japanische Kinder, Männer und Frauen, über 2500 Personen verschwinden spurlos aus dem Leben ihrer Lieben.
Hier, im kleinen Fischerdorf Otsuchi, war damals Herr Sasaki immer noch mit dem Bau einer Telefonzelle beschäftigt. Im Sommer zuvor hatte er seinen besten Freund und Cousin an den Krebs verloren. Die beiden waren gleichaltrig und hatten ein Leben lang als Stahlarbeiter geackert, nur um ihren Ruhestand gemeinsam genießen zu können.
Als sie also endlich Zeit hatten, die vielen Dinge zu tun, auf die sie sich so lange gefreut hatten, stand Itaru auf einmal ohne seinen Freund da. Und es blieben so viele Erfahrungen zu erleben und so viele Dinge ungesagt.
Also baute Itaru in seinem Garten einen kleinen Pavillon aus weißem Holz mit lauter kleinen Glasscheiben und einem grünen Dach aus Metall. Innen steht auf einem Brett ein schwarzes Telefon mit Wählscheibe. Doch das Kabel liegt zusammengerollt dahinter.
Dieses Telefon ist nicht an das Telefonnetz dieser Erde angeschlossen, sondern direkt an den Wind. Wenn Itaru seinem Cousin noch etwas mitteilen will und ihm dann wieder schmerzhaft einfällt, dass dieser nicht mehr lebt, dann geht er in die Telefonzelle.
Dann wartet er, bis er die Wellen hört und die Grillen. Und den Wind.
Wenn er den Wind hört, dann wählt er die Nummer seines Cousins und erzählt ihm aus seinem Leben.
Von den Dingen, die dieser nicht mehr selber erleben kann.
Keiner im Dorf hält Itaru für einen Spinner. Im Shintoismus herrscht die Vorstellung, dass einen geliebte Menschen auch nach dem Tod weiter durch das Leben begleiten. Es ist üblich, sie an kleinen Hausaltaren zu verehren oder Lieblingsspeisen mit ihnen zu teilen.
Keiner glaubt, dass der Mann mit den grauen Haaren und dem grauen Bart Antwort bekommt, wenn er da in seiner Telefonzelle steht. Aber jeder kann verstehen, dass ihm das hilft, über seine Trauer hinwegzukommen.
Der Tsunami trifft das Fischerdörfchen Otsuchi besonders heftig. Die Gebäude der Innenstadt werden beinahe komplett vernichtet und 1200 Menschen kommen sofort ums Leben, einer von Acht. Viele werden vermisst und niemals gefunden.
Itaru Sasaki gehört zu den Helfern und sieht das Leid und die Verzweiflung in diesen Tagen. Doch es gibt nur so viel, dass menschliche Hände leisten können. Und nur so wenig Worte, die trösten.
Am Abend erzählt er seiner Frau von dem Elend, das er tagsüber erlebt hat. Und nachdem die größte Not vorbei ist, auch am Telefon seinem verstorbenen Cousin.
An diesem Abend wartet ein Nachbar im Garten auf ihn. Er bittet um die Erlaubnis, Itarus Telefonzelle benutzen zu dürfen. Er geht in den kleinen Pavillon und bleibt eine ganze Weile stumm darinnen stehen, so erzählt Itaru die Geschichte.
Dann wählt er eine Nummer auf dem Telefon. Dieses Gespräch dauert mehr als eine Stunde. Eine Stunde, in der Itaru nicht weiß, was er machen soll. Soll er fortgehen und den trauernden Mann sich selber überlassen? Oder besser hierbleiben, um im Notfall Ansprechpartner zu sein? Er wartet.
Als sein Nachbar die Zelle verlässt, ist er tränenüberströmt, aber er lächelt. Und er erzählt ihm aufgeregt, was er erlebt hat.
„Ich habe die Nummer unseres Hauses angerufen. Und meiner Frau erzählt, wie sehr wir sie vermisst haben, die Kinder und ich. Und wie wir jeden Tag den Strand abgesucht haben, um sie zu finden. Drei Tage lang!
Gestern aber haben wir sie gefunden. Nun wissen wir endlich, dass sie tot ist. Und ich habe ihr von den Kindern erzählt und wie tapfer sie mir geholfen haben, jetzt, wo sie nicht mehr da ist.
Und dass ich so dankbar bin für die Vergangenheit, auch wenn ich das nie so gesagt habe. Dass ich jetzt weiterleben werde in der Gegenwart, bis ich dann in der Zukunft zu ihr kommen darf.
Deine Telefonzelle hat mir sehr geholfen, Itaru, darf ich morgen meine Kinder mitbringen?“
Itaru nickt. Und er versteht. Noch an diesem Tag stellt er zu dem Telefon einen Kalender und ein großes Notizbuch und Taschentücher. Und er erzählt den Trauernden von seiner Telefonzelle. Von seinem Telefon des Windes.
„Kommt vorbei. Mein Garten ist der große direkt an dem Berghang. Dort habe ich meine kleine Telefonzelle hingebaut. In eine Ecke, so das man ganz für sich alleine ist. Aber so geschützt, das der Wind nicht lauter jault als die leisen Stimmen der geliebten Menschen!“
Und die Menschen kommen. Zögerlich zuerst, aber schnell werden es mehr und mehr. Itaru installiert eine Wartebank in seinem Garten. Ich sitze jeden Tag auf der Bank und schaue den Menschen zu, wie sie kommen und gehen.
Acht Jahre ist die Katastrophe her, doch der Strom der Besucher reißt nicht ab. Gestorben wird immer, rund um die Uhr, das ganze Jahr. Die Sasakis schätzen, das sie letztes Jahr 10.000 verschiedene Besucher hatten.
Viele bleiben für ein Schwätzchen stehen. Einige bedanken sich bei Itaru oder seiner Frau persönlich. Die Telefonzelle ist die berühmteste in ganz Japan.
Selbst aus Tokio kommen Menschen, obwohl das sieben Stunden Fahrt auf der Autobahn bedeutet. Einfach! Ich beobachte auch die Menschen aus Tokio, die so lange gefahren sind, zu dem Telefon, das nicht einmal angeschlossen ist.
Ich komme am Morgen und gehe am Abend. Ich bin wie magnetisch angezogen von diesem Ort: Ein Plätzchen, das wir kollektiv zu einer Stätte des Gedenkens gemacht haben. Lebendige Spiritualität, weit entfernt von jeder Ideologie, Religion oder Institutionalisierung.
Eines Abends setzt sich Itaru zu mir auf die Bank. Er legt die Hände übereinander und achtet darauf, die Hand zu verdecken, an der ein halber Finger fehlt.
„Der Tod ist so viel länger als das Leben.“, stellt er fest und ich weiß nicht, was er meint. Für mich ist der Tod ein Ereignis und hat keinerlei Dauer.
„Das Leben dauert höchstens hundert Jahre. Aber der Tod dauert länger. Für den Toten, aber auch für die Hinterbliebenen. Der Tod beendet das Leben nicht – nicht für die Menschen, die hier im Leben zurückgelassen werden. Die müssen herausfinden, wie sie damit umgehen. Die müssen einen Weg erschaffen, verbunden zu bleiben.“
Ich traue mich zuerst nicht, aber dann frage ich ihn doch:
„Die meisten schauen so aus, als würden sie wirklich mit jemandem reden in der Zelle. Glauben Sie, dass die Toten antworten? Das die Verstorbenen das Gespräch annehmen?“
Und er erzählt mir eine Geschichte:
„Da war ein Mann, noch älter als ich, der seine Frau auch im Tsunami verloren hatte. Der war zuerst sehr nervös und ich hatte den Eindruck, er kam sich ziemlich albern in der Zelle vor. Aber dann benutzte er doch das Telefon.
Und er hörte und hörte gar nicht mehr auf zu reden. Und zwischendurch hörte er zu. Ganz ruhig hörte er zu. Oder er nickte zustimmend oder schüttelte den Kopf. Manchmal musste er lachen und einmal war er richtig beleidigt. Er hatte eine Unterhaltung, keine Frage!
Nach dem Gespräch kam er bei mir vorbei, ich werkelte im Garten. Und da beschwerte er sich doch glatt bei mir, wie ihm seine Frau schon wieder auf die Nerven ging mit ihrer Nörgelei! Dies sollte er erledigen und jenes nicht vergessen – dauernd würde sie ihm immer nur Vorwürfe machen!
Und dann brachen dem armen alten Mann alle Dämme und er weinte. Sein Herz entleerte sich der Trauer, die es schon so lange trug.
Wenn Dein Herz mit zuviel Trauer gefüllt ist, dann funktionieren alle Sinne nicht mehr richtig. Man ist eingesperrt, als hätten sich Vorhänge um einen gesenkt. Man gehört nicht mehr zum Leben.
Aber wenn man sich ein bisschen erleichtert, dann hört man vielleicht wieder einen Vogel singen oder die Wellen des Ozeans oder man sieht den Fuchs hier im Garten. Das ist ein Anfang. Das ist eine Hilfe.
Ein Telefongespräch mit dem Telefon des Windes ist nicht einseitig, wenn man die Phantasie benutzt. Man redet und dann hört man auf die Phantasie, die einem zeigt, was die andere Person sagen würde. Und es ist wichtig, zuzuhören. Die Phantasie ist der Schlüssel, musst DU wissen!
Es ist die Phantasie, die Dir helfen wird, weiter zu leben.
Denn Du musst Dir ausmalen, wie es ist, ohne die geliebte Person zu leben. Benutze die Phantasie, schau Dir diese Zukunft an. Schau Dir zu, wie Du ohne ihn frühstückst. Schau, wie Du ohne ihn mit dem Zug nach Tokio fährst. Wenn Du Dir das ausmalen kannst, dann wirst Du das auch schaffen!“
Danach sitzen Herr Sasaki und ich noch auf der Bank und sagen nichts. Hören nur dem Meer zu. Und den Grillen. Bis er dann mir eine Gegenfrage stellt:
„Wann wirst Du so weit sein, selber das Telefon des Windes zu benutzen?“
Ich weiß keine Antwort. Aber bald, hoffe ich. Bald.
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