play_circle_filled pause_circle_filled volume_down volume_up volume_off Im Laufe eines Lebens kommt es zu ungewöhnlichen Bündnissen. Die Beziehung zu unseren Haustieren basiert zum Beispiel auf Versprechungen und Abmachungen, die nicht verbal sind. Wir Menschen denken deswegen oft, deshalb hätten sie keine Gültigkeit. Würde man aber zum Beispiel eine Katze fragen, hätte sie Anderes zu berichten. Fragen wir doch einmal die Katze von Matthias!
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Musiktitel: „The Cat’s 9 Lives Song“ von Rhett, Link & Hannah Hart
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Die Geschichte zum Lesen
Der Wecker piepst nervtötend und ich schrecke hoch, gerade eben war ich eingenickt. Mein Bettgenosse schnarcht leise weiter. Ich öffne die Augen und blicke in den dunklen Raum. Um fünf Uhr will er aufstehen, das nimmt er sich jeden Tag fest vor. Aber er hört den Wecker nicht – das ist typisch für Matthias.
Ich drehe meinen Kopf und sehe ihn neben mir liegen. Den riesigen Fleischberg, der sich Matthias nennt. Meinen Freund. Wobei Freund noch eine Untertreibung ist. Passender wäre: Das einzige Lebewesen auf der Welt, das ich jemals geliebt habe.
Seit zehn Jahren wache ich neben ihm auf. Wenn ich ihn so mustere, werde ich traurig. Das muss man eigentlich, wenn man sich das Blatt betrachtet, das Gott ihm ausgeteilt hat.
Kurz nachdem ich bei ihm eingezogen war, starben seine Eltern schuldlos bei einem Verkehrsunfall. Das hat ihn sehr niedergeschlagen, denn viele wichtige Dinge würden jetzt nie mehr gesagt werden können.
Das war nicht so schmerzhaft, weil das Verhältnis gut war, sondern weil es ausgesprochen schlecht war. Ich bin kein Spezialist für menschliche Emotionen: Aber Matthias hatte ein schlechtes Gewissen. Als ob er persönlich mit seinem Wohnmobil die Motorhaube des Volvos in den Kofferraum gepresst hat.
Kurz nach der Beerdigung begann er aufzugehen wie ein Stück Hefeteig. Er hörte einfach nicht mehr auf zu essen, jedes Pfund Fleisch um seine Seele war willkommene Panzerung.
Als dann seine Freundin den Weg nicht mehr mitgehen konnte, weil es kein Licht am Ende des Horizonts gab, war es um sein Seelenheil eine lange Zeit erst einmal geschehen.
Ich setzte nicht eines oder zwei, sondern drei meiner Leben ein, auf dem Weg durch dieses Tal. Beim ersten Mal starb er an einer Überdosis der Tabletten, die sein Psychiater ihm verschrieben hatte. Beim zweiten Mal verblutete er in einer Wanne mit heißem Wasser, weil er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Und beim dritten Mal wickelte er seine 140 Kilogramm Mensch mit dem Auto um einen Baum.
Doch es war dann noch ein langer Weg durch das Leben. Matthias ist eine herzensgute Seele und ich hätte mir wirklich gewünscht, dass ihm bessere Dinge widerfahren, als es der Fall war.
Ich versuche, ihn spüren zu lassen, wie sehr ich ihn liebe und wie wichtig er ist in meinem Leben, aber es ist nicht das Gleiche. Ich weiß nicht, ob ihn das überhaupt erreicht. Er hätte wirklich verdient, dass ihn jemand anders liebt als ich. Ein Mensch. Ich habe ein bisschen Angst, dafür ist es zu spät.
Ich kann fühlen, wie sich in seinem rechten Unterschenkel ein Thrombus löst. Es wird nicht lange dauern, bevor er zum Herzen gepumpt wird und dort den Herzinfarkt auslösen wird, der das Leben von Matthias endgültig beendet.
Nachdem er unser Häuschen nur noch verlassen hatte, um in die Arbeit zu gehen und den Rest seiner Zeit mit Fernsehen und Trinken verbrachte, begannen die Unfälle.
Ausgelöst durch mangelnde Körperkontrolle. Zwei, drei Promille machen die Koordination nicht nur im Moment kaputt, sondern auf Tage.
Er stürzte beim Duschen und schlug sich den Kopf an, das war mein Leben Nummer vier. Ein weiterer Sturz von der Leiter, als er versuchte, den Balkon zu streichen, Nummer sechs war die Vergiftung, als er vergaß, die Bohnen zu kochen und zu betrunken war, um das zu bemerken.
Vielleicht war Matthias einfach zu ruhig. Wir Tiere schätzen diese Eigenschaft an Menschen, aber Menschen mögen das an anderen Menschen nicht. Auch, wenn es ihm wirklich schlecht ging; auch, wenn er betrunken war; niemals vergaß er nur einen Tag, sich um mich zu kümmern!
Sein Kühlschrank war manchmal gähnend leer, aber für mein Futter war immer gesorgt. Selbst, wenn er tränenüberströmt auf dem Sofa saß, konnte er einfach nicht anders, als mich streicheln, wenn ich zu ihm kam.
Er war wirklich ein herzensguter Mensch und hätte ein glücklicheres Leben verdient. So ein Leben, wie er es mir bereitet hat, als er meinen Wurf aufgenommen hat.
Der Besitzer unserer Mutter hatte mich und meine Geschwister einfach im Park ausgesetzt. Da lagen wir unter einer Parkbank und wären gestorben, wenn nicht ein gertenschlanker Matthias uns mitten in der Nacht gefunden hätte.
Für meine Schwestern und meinen Bruder war die Hilfe zu spät, selbst die Tierärzte konnten nichts gegen die Schäden tun, die die Dehydrierung bereits an den Organen angerichtet hatte.
Nur die eine besonders hässliche Katze mit nur einem Auge, die überlebte. Und diese Katze war ich. Matthias hat mich, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern, aufgenommen und gesund gepflegt, als ich noch den Schutz einer Mutter gebraucht hätte.
Er hat ohne Reue sein Häuschen, seine Zeit, sein Geld und sein Leben mit mir geteilt und mich vom ersten Tag an einfach bedingungslos geliebt. Wenn ein Kätzchen so klein ist, wie ich damals war, dann kostet die Fürsorge viel Zeit und viel Nerven, aber Matthias war nicht ein einziges Mal ungeduldig.
Dafür, für sein liebendes Herz, für seine geduldige Seele, für die Größe seines wahren Wesens, werde ich diesen Fleischberg immer lieben. Mit der gleichen absoluten Bedingungslosigkeit, die er mir entgegenbringt.
Doch dieser Thrombus wird unsere Beziehung gleich beenden. Ich spüre, wie er nur noch ganz locker an der Venenwand klebt und wie ihn die Erschütterung jedes Pulsens ein Stückchen weiter löst.
Es ist doch nicht zu viel verlangt, wenn ich dieses eine, dieses neunte Leben für mich selber verwende, oder? Eines von neun Leben?
Denn Leben Nummer sieben, das war vor vier Jahren, als Matthias wieder beschloss, sein Leben umzukrempeln. Er stellte sich den Wecker auf fünf Uhr, so wie jetzt, und dann begann er vor der Arbeit joggen zu gehen.
Ich begleitete ihn, sicherheitshalber. Viele, viele Unfälle können passieren, wenn unterforderte Beinmuskeln auf einmal drei Zentner Matthias tragen müssten, malte ich mir aus.
Darum war ich vor Ort, als er den ersten Herzinfarkt erlitt, der seine sportliche Laufbahn beenden würde. Und, Gott sei Dank, auch seinen Alkoholkonsum.
Dann gab es noch die Lungenembolie vor drei Jahren. Die war zu Beginn nur eine Atemnot und ich dachte mir nichts. Aber dann wurde sein Atem zu einem Rasseln und er musste sich hinlegen und seine Lippen wurden blau und dann begann er sogar noch Blut zu husten. Da musste ich mein achtes Leben hergeben.
Seit dieser Geschichte ist es in unserem Leben etwas ruhiger geworden. Klar, der Wecker steht auf fünf Uhr und er hört das immer noch nicht. Aber in den letzten drei Jahren hat er langsam körperlich abgenommen und seelisch aufgebaut.
Yoga tut ihm gut, es ist erstaunlich zu sehen, wie beweglich er wieder geworden ist. Und er achtet auch auf das, was er isst. Schön und gut, begrüßenswert.
Dass er aber versucht hat, mir dieses Forza-10-Trockenfutter zu füttern, ist natürlich ein Eintrag in seinem sonst so tadellosen Führungszeugnis. Veganes Katzenfutter kommt mir nicht in die Schüssel!
Ich glaube sogar, da ist ein anderes weibliches Wesen in seinem Leben außer mir. Ich weiß noch nicht, ob dieses Wesen ihm guttut, aber sie riecht auf jeden Fall sympathisch. Ich würde mich wirklich freuen, sie kennenzulernen.
Doch da ist dieser Thrombus, den ich spüren kann. Bald wird er sich lösen und bald wird Matthias sterben. Ich kann dieses Mal nicht mehr helfen.
Ich kann mich genau erinnern, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Er hatte uns jammern gehört, als er am frühen Morgen von einer Party unterwegs nach Hause war. Seine Schritte schwankten, als er sich der Bank näherte.
Aber als er uns entdeckte, war er auf einen Schlag nüchtern. Klar, seine Augenringe waren so groß, als würde er eine Brille tragen und die Pupillen waren gläsern vom Alkohol. Aber dahinter war er auf einmal völlig anwesend.
Hinter dem Gift schlug ein großes Herz und es war mit seiner ganzen, großen Kraft für mich und meine Geschwister da. Da war er auf einmal in meinem Leben. Mein Retter. Mein dicker, dummer Mensch. Mein Matthias.
Es war, als hätte er in diesem Moment vor Gott einen Schwur geleistet, mich zu lieben und zu ehren. In guten und in schlechten Zeiten. Bis der Tod uns scheidet. Dieser gutherzige Narr!
HW: Als Matthias den Wecker hört, wacht er mit einem Stöhnen auf. Er hat einen trockenen Mund und einen unangenehmen Druck auf dem Brustkorb. Er öffnet die Augen und sieht Madita neben sich liegen.
Er strubbelt seiner Katze durch das Fell, wie er es jeden Morgen als erstes tut. Aber es fühlt sich anders an als sonst. Maditas Körper ist zu kühl und zu starr.
Er springt in wilder Panik mit einem Satz aus dem Bett und reißt den Körper seiner Katze mit sich, doch schon setzt wie ein Schlag in die Magengrube die Erkenntnis ein.
Langsam setzt er sich wieder. Er betrachtet den Körper der Katze, die ihn durch die dunkelsten Jahre seines Lebens begleitet hat. Respektvoll warten die Tränen eine halbe Stunde, bevor sie heiß ins Fell der Katze tropfen, die ihre neun Leben für ihn gelassen hat.
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